Mord im Mär­ki­schen Vier­tel | Retro Über­blen­dung

23.1.23 | 18 Uhr

DDR 1974/75 – 75 Min. – Schwarz­weiß – R: Hel­mut Krät­zig – B: Gün­ter Pro­döhl, Hel­mut Krät­zig – K: Peter Süring – M: Hel­mut Nier – D: Wolf­gang Hos­feld, Hen­ry Hüb­chen, Peter Reus­se, Frie­de­ri­ke Aust, Die­ter Fran­ke, Nor­bert Chris­ti­an, Otto Mel­lies, Volk­mar Klei­nert

Auf die Ent­span­nungs­po­li­tik des Wes­tens und Annä­he­rung an die DDR, wel­che ins­be­son­de­re die Ende 1969 ins Amt gelang­te sozi­al­li­be­ra­le Koali­ti­on unter Bundes­kanzler Wil­ly Brandt betrieb, reagier­te die SED mit ver­stärk­ter Abgren­zung: Statt der mit viel gesamt­deut­schem Pathos (und gele­gent­lich auch natio­na­lis­ti­schen Tönen) gefor­der­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung wur­de nun die „eigen­stän­di­ge Nati­on DDR“ pro­pagiert und so getan, als wären die Bun­des­re­pu­blik und West-Berlin belie­bi­ges Aus­land. Dem­entspre­chend tauch­ten letz­te­re in der fik­tio­na­len Film- und Fernseh­produktion der DDR fort­an nur noch sel­ten auf.

Das Deba­kel des Mär­ki­schen Vier­tels, das mit gro­ßen Ambi­tio­nen geplant und gebaut wor­den war, sich aber rasch zum sozia­len Brenn­punkt und weit über Ber­lin hin­aus zum Inbe­griff einer unmensch­li­chen Tra­ban­ten­stadt ent­wi­ckelt hat­te, moch­te man sich im Osten jedoch nicht ent­ge­hen las­sen. Dabei berei­te­te es zuneh­mend Schwie­rig­kei­ten, vor der Kame­ra „Wes­ten“ erste­hen zu las­sen – im vor­lie­gen­den Fal­le bereits bei der Beschaf­fung einer aus­rei­chen­den Anzahl west­li­cher Motor­rä­der oder auch nur west­lich wir­ken­der Motor­rad­hel­me.

Die Hand­lung die­ses Fern­seh­films nimmt ihren Aus­gang bei Pro­tes­ten gegen die Schlie­ßung des ein­zi­gen Jugend­zen­trums im Mär­ki­schen Vier­tel. In einer Kurz­schlusshandlung erschießt ein jun­ger Spit­zel des Ver­fas­sungs­schut­zes, zugleich Sohn eines Stadt­rats, einen Jugend­li­chen aus einer benach­bar­ten Obdachlosen­siedlung. Poli­zei und Jus­tiz wol­len den Fall laut­los erle­di­gen und machen den Bru­der des Getö­te­ten, der Auf­klä­rung ver­langt, selbst zum Täter, wozu ein Sozi­al­ar­bei­ter und ein Fern­seh­jour­na­list bei­tra­gen.

Vor­geb­lich ori­en­tiert an wah­ren Bege­ben­hei­ten, zeigt der Schwarz­weiß­film aus der TV-Reihe „Kri­mi­nal­fäl­le ohne Bei­spiel“ West-Berlin wie­der ein­mal als Ort voll Elend und kras­sen sozia­len Unter­schie­den, in dem die herr­schen­den Krei­se alle unter einer Decke ste­cken und man ange­sichts schieß­freu­di­ger Ord­nungs­hü­ter sei­nes Lebens nicht sicher ist. Dabei wer­den eher die Klischee- und wohl auch Wunschvorstellun­gen gewis­ser öst­li­cher Krei­se bebil­dert als die wirk­li­chen sozia­len Miss­stän­de und ins­be­son­de­re die Fehl­ent­wick­lun­gen in der west­li­chen Wohnungsbau- und Stadt­sanierungspolitik, derer es reich­lich gab. Der west­li­che Zuschau­er gewinnt so den Ein­druck, hier wür­den weder die tat­säch­li­chen Pro­ble­me behan­delt noch das wahr­haft Kri­tik­wür­di­ge kri­ti­siert. Unter der Regie des Kri­mi­spe­zia­lis­ten Hel­mut Krät­zig wird aller­dings auch die Poli­zei­ar­beit so unrea­lis­tisch dar­ge­stellt, dass man den­ken könn­te, das Pro­pa­gan­da­stück habe still sabo­tiert wer­den sol­len. Was das Trei­ben von Spit­zeln und einer gelenk­ten Jus­tiz angeht, ver­trau­ten die Fil­me­ma­cher ein wei­te­res Mal dar­auf, dass die Zuschau­er in der DDR kei­ne Par­al­le­len zu den Ver­hält­nis­sen zogen, unter denen sie leb­ten.

Ein Film aus dem Deut­schen Rund­funk­ar­chiv.

Geför­dert mit Mit­teln der Bun­des­stif­tung zur Auf­ar­bei­tung der SED-Diktatur.

 

Retro Über­blen­dung:
Im Wes­ten: Arbeits­lo­sig­keit, Dro­gen­sucht, alte und neue ­Nazis, Pro­sti­tu­ti­on, per­spek­tiv­lo­se Jugend­li­che, fal­scher Schein von Auf­schwung und Wohl­stand, dahin­ter kras­se ­sozia­le Gegen­sätze und Elend.
Im Osten: Über­wa­chung, Unter­drü­ckung, fana­ti­sche ­Kom­mu­nis­ten, Ver­fall, beschei­de­ne Lebens­verhältnisse, all­gegenwärtige Angst und ein fin­ste­­res Sys­tem, aus dem man flüch­ten möch­te.
Haben Ost und West wäh­rend der deut­schen Tei­lung die­je­weils ande­re Sei­te am liebs­ten so in Film und Fern­se­hen ­gezeigt?
Die Retro­spek­ti­ve »Über­blen­dung – Ver­ges­se­ne Bil­der von Ost und West« möch­te zur Beant­wor­tung die­ser Fra­ge bei­tragen, indem sie vie­le Rari­tä­ten prä­sen­tiert. Dar­un­ter schwer zu ­beschaf­fen­de Fern­seh­pro­duk­tio­nen, die wohl zum ers­ten Mal seit Jahr­zehn­ten wie­der zu sehen sind wie die ­Fil­me »Aus dem All­tag in der DDR« und vier Fol­gen der Serie »Fami­lie Berg­mann«: Anfang der 70er Jah­re soll­ten sie den West­deut­schen das ­Leben im ihnen fremd­ge­wor­de­nen Osten des Lan­des nahe­bringen.
Wei­te­re Aus­gra­bun­gen sind der ZDF-Film »Das Haus« über ein Gebäu­de an der Ber­li­ner Mau­er, die NDR-Produktion »Ger­hard Lang­ham­mer und die Frei­heit« über die Pro­ble­me eines Flücht­lings im Wes­ten oder der DEFA-Streifen »Was wäre, wenn …?«: 1960 spiel­te er durch, was gesche­hen könn­te, soll­te ein ­DDR-Dorf plötz­lich die Sei­te wech­seln – mit »Die Dubrow-­Krise« ent­stand 1968 ein ähn­li­cher Film im Wes­ten.
Zu den Rari­tä­ten zäh­len auch »Mord im Mär­ki­schen Vier­tel« über einen Kri­mi­nal­fall in West-Berlin und »Brand­stel­len«,
die DEFA-Adaption eines Romans von Franz Josef Degen­hardt. Schon 1966 war mit »Irr­licht und Feu­er« ein gesellschafts­kritisches Buch eines west­deut­schen Autors, hier Max von der Grün, für das DDR-Fernsehen adap­tiert wor­den. Und auch die ARD hat­te die­sen Zwei­tei­ler 1968 gesen­det.
Auf einen selbst­kri­ti­schen Blick auf die eige­ne Sei­te ver­zich­te­ten auch vie­le West­fil­me über den Osten nicht. Ob in ­»Post­la­gernd Tur­tel­tau­be«, »Flucht nach Ber­lin« oder »Gedenk­tag« (über den Volks­auf­stand vom 17. Juni 1953): Immer wie­der lau­te­te der Haupt­vor­wurf, die sat­ten West­ler inter­es­sie­re der Osten nicht mehr.
Die Kri­tik, wel­che selbst die­se West­fil­me am Wes­ten übten, ver­stärk­te das Dilem­ma der Ost­fil­me: Eine dif­fe­ren­zier­te Dar­stel­lung der Zustän­de im Wes­ten wie in »Zwi­schen­fall in Ben­de­rath« war ohne­hin eher die Aus­nah­me, oft wur­de über­trie­ben und die Kri­tik an den Pro­ble­men ent­spre­chend unscharf.
So woll­te »Akti­on J« nach­wei­sen, dass Ade­nau­ers Kanz­ler­amts­mi­nis­ter Hans Glob­ke beim Holo­caust eine gleich gro­ße Rol­le gespielt hat­te wie Adolf Eich­mann. »Frei­spruch man­gels ­Bewei­ses«, die Ver­fil­mung einer Münch­ner Affä­re, wur­de ­wenig spä­ter von der rea­len Ent­wick­lung wider­legt. Glei­ches war schon »Das ver­ur­teil­te Dorf« wider­fah­ren.
Da es unglaub­wür­dig gewe­sen wäre, ver­elen­de­te Pro­le­ta­rier­mas­sen zu zei­gen, wid­me­ten sich die Ost­fil­me über den Wes­ten gern den »bes­se­ren« Krei­sen – und damit der Prä­sen­ta­ti­on ­eines beson­ders schi­cken Ambi­en­tes und Lebens­stils. Eine ­Pro­duk­ti­on wie »Spiel­bank­af­fä­re« wur­de des­halb im Osten nur ver­stüm­melt, in Schwarz­weiß und im Bild­for­mat 4:3 ­gezeigt. Und selbst ein Film, der von der Bun­des­re­pu­blik so ange­wi­dert war wie »Der Haupt­mann von Köln«, oder die Agen­ten­se­rie »Das unsicht­ba­re Visier« tapp­ten in die­se Fal­le.
Zu jeder der vier­zig Pro­duk­tio­nen gibt es eine fach­kun­di­ge Ein­füh­rung.

Datum

Mo 23. Januar 2023
vorbei!

Uhrzeit

18:00

Preis

8 € / erm. 6 € | zzgl. VVK-Geb.

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Ort

KINO Brotfabrik
Kategorie
Brotfabrik Berlin

Veranstalter

Brotfabrik Berlin
Phone
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