

Flucht nach Berlin | Retro Überblendung
17.1.23 | 18 Uhr + 21.1.23 | 16 Uhr
BRD 1960/61 – 103 Min. – Schwarzweiß – R+B: Will Tremper – K: Günter Haase, Gerard Bonin – M: Peter Thomas – D: Christian Doermer, Susanne Korda, Narciss Sokatscheff
Der 1928 geborene Will Tremper war ein prominenter Journalist und hatte mit Filmen wie „Die Halbstarken“ und „Endstation Liebe“ auch schon als für damalige westdeutsche Verhältnisse unkonventioneller Drehbuchautor von sich reden gemacht, als sich ihm 1960 die Gelegenheit bot, Regie zu führen. Stets an der Wirklichkeit interessiert und zeitlebens ein begeisterter (Wahl-) Berliner, wollte er mit der deutschen Teilung, der gerade wieder angeschwollenen Massenflucht aus der DDR und der dortigen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft lauter „heiße Eisen“ aufgreifen und so auch kommerziell reüssieren, nicht begreifend, dass in Westdeutschland deshalb kaum Kinofilme zu diesen Themen entstanden, weil sie von den Kinogängern verschmäht wurden (und eine nennenswerte staatliche Filmförderung gab es damals noch nicht). Aus dem gleichen Grund galt der damalige Dauerkrisenherd Berlin als „Kassengift“ – allenfalls als Drehort akzeptabel, aber keinesfalls als Bestandteil eines Filmtitels.
Dementsprechend flopte auch Trempers mit wenig Geld, einigen Laien und viel Enthusiasmus außerhalb der Ateliers (also ganz im Geiste der Nouvelle Vague und anderer damaliger „Jungfilmer“) gedrehtes Actiondrama um zwei parallel verlaufende Fluchten aus einem DDR-Dorf nach Berlin: Ein Bauer, der sich gegen den Zwangsbeitritt zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft wehrt, will in den Westteil der Stadt, wobei eine über die Transitautobahn reisende Schweizerin seine unfreiwillige Begleiterin wird. Ein fanatischer junger Funktionär, dem seine Genossen die Flucht des Bauern anlasten, will nach Ost-Berlin, um dort seine Rehabilitierung zu erwirken.
Wie üblich wurde die DDR in „Flucht nach Berlin“ durch Spruchbänder und andere Propagandamittel gekennzeichnet, es herrscht dort eine Atmosphäre der Einschüchterung und Angst. Tremper sparte aber auch nicht mit Kritik an satten, ignoranten West-Berlinern. Ohne sein Wissen wurde daher das ursprüngliche Filmende – im Angesicht eben aus dem Wasser geretteter Flüchtlinge ruft eine grelle Blondine mit Sektglas in der Hand und aufgesetztem Pathos aus: „Es lebe die Freiheit!“ – vom Verleih entfernt.
Gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Retro Überblendung:
Im Westen: Arbeitslosigkeit, Drogensucht, alte und neue Nazis, Prostitution, perspektivlose Jugendliche, falscher Schein von Aufschwung und Wohlstand, dahinter krasse soziale Gegensätze und Elend.
Im Osten: Überwachung, Unterdrückung, fanatische Kommunisten, Verfall, bescheidene Lebensverhältnisse, allgegenwärtige Angst und ein finsteres System, aus dem man flüchten möchte.
Haben Ost und West während der deutschen Teilung diejeweils andere Seite am liebsten so in Film und Fernsehen gezeigt?
Die Retrospektive »Überblendung – Vergessene Bilder von Ost und West« möchte zur Beantwortung dieser Frage beitragen, indem sie viele Raritäten präsentiert. Darunter schwer zu beschaffende Fernsehproduktionen, die wohl zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder zu sehen sind wie die Filme »Aus dem Alltag in der DDR« und vier Folgen der Serie »Familie Bergmann«: Anfang der 70er Jahre sollten sie den Westdeutschen das Leben im ihnen fremdgewordenen Osten des Landes nahebringen.
Weitere Ausgrabungen sind der ZDF-Film »Das Haus« über ein Gebäude an der Berliner Mauer, die NDR-Produktion »Gerhard Langhammer und die Freiheit« über die Probleme eines Flüchtlings im Westen oder der DEFA-Streifen »Was wäre, wenn …?«: 1960 spielte er durch, was geschehen könnte, sollte ein DDR-Dorf plötzlich die Seite wechseln – mit »Die Dubrow-Krise« entstand 1968 ein ähnlicher Film im Westen.
Zu den Raritäten zählen auch »Mord im Märkischen Viertel« über einen Kriminalfall in West-Berlin und »Brandstellen«,
die DEFA-Adaption eines Romans von Franz Josef Degenhardt. Schon 1966 war mit »Irrlicht und Feuer« ein gesellschaftskritisches Buch eines westdeutschen Autors, hier Max von der Grün, für das DDR-Fernsehen adaptiert worden. Und auch die ARD hatte diesen Zweiteiler 1968 gesendet.
Auf einen selbstkritischen Blick auf die eigene Seite verzichteten auch viele Westfilme über den Osten nicht. Ob in »Postlagernd Turteltaube«, »Flucht nach Berlin« oder »Gedenktag« (über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953): Immer wieder lautete der Hauptvorwurf, die satten Westler interessiere der Osten nicht mehr.
Die Kritik, welche selbst diese Westfilme am Westen übten, verstärkte das Dilemma der Ostfilme: Eine differenzierte Darstellung der Zustände im Westen wie in »Zwischenfall in Benderath« war ohnehin eher die Ausnahme, oft wurde übertrieben und die Kritik an den Problemen entsprechend unscharf.
So wollte »Aktion J« nachweisen, dass Adenauers Kanzleramtsminister Hans Globke beim Holocaust eine gleich große Rolle gespielt hatte wie Adolf Eichmann. »Freispruch mangels Beweises«, die Verfilmung einer Münchner Affäre, wurde wenig später von der realen Entwicklung widerlegt. Gleiches war schon »Das verurteilte Dorf« widerfahren.
Da es unglaubwürdig gewesen wäre, verelendete Proletariermassen zu zeigen, widmeten sich die Ostfilme über den Westen gern den »besseren« Kreisen – und damit der Präsentation eines besonders schicken Ambientes und Lebensstils. Eine Produktion wie »Spielbankaffäre« wurde deshalb im Osten nur verstümmelt, in Schwarzweiß und im Bildformat 4:3 gezeigt. Und selbst ein Film, der von der Bundesrepublik so angewidert war wie »Der Hauptmann von Köln«, oder die Agentenserie »Das unsichtbare Visier« tappten in diese Falle.
Zu jeder der vierzig Produktionen gibt es eine fachkundige Einführung.