

Chronik eines Mordes | Retro Überblendung
19.1.23 | 20:30 Uhr
DDR 1964/65 – 91 Min. – Schwarzweiß – R+K: Joachim Hasler – B: Angel Wagenstein, nach Motiven von Leonhard Frank – M: Gerd Natschinski – D: Angelica Domröse, Ulrich Thein, Jiří Vrštala, Bohumil Šmída, Martin Flörchinger, Willi Schwabe
Eine Frau erschießt in aller Öffentlichkeit den frisch gewählten Bürgermeister einer westdeutschen Stadt. Sie will damit dafür sorgen, dass endlich publik wird, welche Schuld er an dem trägt, was ihr und ihrer Familie ihrer jüdischen Herkunft wegen in der NS-Zeit zugefügt worden war. Statt der ihr angebotenen Zahlung zur „Wiedergutmachung“ verlangt sie Gerechtigkeit. Doch die alten Seilschaften und all jene, die von ihnen profitieren oder vor ihnen Angst haben, bemühen sich nach Kräften, die Wahrheit weiter zu vertuschen.
Wenige Jahre nach dem grandiosen, von dem jungen Konrad Wolf inszenierten Holocaustdrama „Sterne“ schrieb Angel Wagenstein auch das Drehbuch zu diesem Film nach Motiven des Romans „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank (1882-1961), der seinen Sympathien für die DDR zum Trotz aus dem US-Exil in seine bayerische Heimat zurückgekehrt war.
Ein weiteres Mal beschäftigte sich der Osten hier mit dem wohl größten Makel der jungen Bundesrepublik: Dem laxen Umgang mit der verbrecherischen NS-Vergangenheit und deren Akteuren, dessentwegen selbst Leute, die für übelste Verbrechen Verantwortung oder zumindest Mitverantwortung trugen, wieder in wichtige Positionen gelangen und ein komfortables Leben führen konnten.
Leider leidet der ansonsten sorgfältig gestaltete Scopefilm jedoch an den Unwahrscheinlichkeiten seiner etwas gewaltsam zurechtgebogenen Geschichte: Nicht nur soll die Wehrmacht das gefördert haben, was die Nazis in ihrer wirren Ideologie als „Rassenschande“ bezeichneten und teils drakonisch bestraften. Auch wird so getan, als ließe sich die üble Vergangenheit des Politikers dauerhaft erfolgreich verbergen, weil im Westen ja sowieso alle – Politik, Justiz, Medien, Mediziner – „unter einer Decke stecken“. Damit wird ein Narrativ der DDR-Propaganda genährt, das so erfolgreich war, dass es inzwischen auch im Westen zum Gemeingut geworden ist, welches aber – wie zahlreiche Enttarnungen, nachfolgende Skandale und Debatten belegen – nichts mit der Realität der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre zu tun hat: Im Zweifelsfalle sorgte schon der Osten dafür, dass im Westen immer wieder über NS-Verbrechen und NS-Verbrecher gesprochen wurde.
Gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Retro Überblendung:
Im Westen: Arbeitslosigkeit, Drogensucht, alte und neue Nazis, Prostitution, perspektivlose Jugendliche, falscher Schein von Aufschwung und Wohlstand, dahinter krasse soziale Gegensätze und Elend.
Im Osten: Überwachung, Unterdrückung, fanatische Kommunisten, Verfall, bescheidene Lebensverhältnisse, allgegenwärtige Angst und ein finsteres System, aus dem man flüchten möchte.
Haben Ost und West während der deutschen Teilung diejeweils andere Seite am liebsten so in Film und Fernsehen gezeigt?
Die Retrospektive »Überblendung – Vergessene Bilder von Ost und West« möchte zur Beantwortung dieser Frage beitragen, indem sie viele Raritäten präsentiert. Darunter schwer zu beschaffende Fernsehproduktionen, die wohl zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder zu sehen sind wie die Filme »Aus dem Alltag in der DDR« und vier Folgen der Serie »Familie Bergmann«: Anfang der 70er Jahre sollten sie den Westdeutschen das Leben im ihnen fremdgewordenen Osten des Landes nahebringen.
Weitere Ausgrabungen sind der ZDF-Film »Das Haus« über ein Gebäude an der Berliner Mauer, die NDR-Produktion »Gerhard Langhammer und die Freiheit« über die Probleme eines Flüchtlings im Westen oder der DEFA-Streifen »Was wäre, wenn …?«: 1960 spielte er durch, was geschehen könnte, sollte ein DDR-Dorf plötzlich die Seite wechseln – mit »Die Dubrow-Krise« entstand 1968 ein ähnlicher Film im Westen.
Zu den Raritäten zählen auch »Mord im Märkischen Viertel« über einen Kriminalfall in West-Berlin und »Brandstellen«,
die DEFA-Adaption eines Romans von Franz Josef Degenhardt. Schon 1966 war mit »Irrlicht und Feuer« ein gesellschaftskritisches Buch eines westdeutschen Autors, hier Max von der Grün, für das DDR-Fernsehen adaptiert worden. Und auch die ARD hatte diesen Zweiteiler 1968 gesendet.
Auf einen selbstkritischen Blick auf die eigene Seite verzichteten auch viele Westfilme über den Osten nicht. Ob in »Postlagernd Turteltaube«, »Flucht nach Berlin« oder »Gedenktag« (über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953): Immer wieder lautete der Hauptvorwurf, die satten Westler interessiere der Osten nicht mehr.
Die Kritik, welche selbst diese Westfilme am Westen übten, verstärkte das Dilemma der Ostfilme: Eine differenzierte Darstellung der Zustände im Westen wie in »Zwischenfall in Benderath« war ohnehin eher die Ausnahme, oft wurde übertrieben und die Kritik an den Problemen entsprechend unscharf.
So wollte »Aktion J« nachweisen, dass Adenauers Kanzleramtsminister Hans Globke beim Holocaust eine gleich große Rolle gespielt hatte wie Adolf Eichmann. »Freispruch mangels Beweises«, die Verfilmung einer Münchner Affäre, wurde wenig später von der realen Entwicklung widerlegt. Gleiches war schon »Das verurteilte Dorf« widerfahren.
Da es unglaubwürdig gewesen wäre, verelendete Proletariermassen zu zeigen, widmeten sich die Ostfilme über den Westen gern den »besseren« Kreisen – und damit der Präsentation eines besonders schicken Ambientes und Lebensstils. Eine Produktion wie »Spielbankaffäre« wurde deshalb im Osten nur verstümmelt, in Schwarzweiß und im Bildformat 4:3 gezeigt. Und selbst ein Film, der von der Bundesrepublik so angewidert war wie »Der Hauptmann von Köln«, oder die Agentenserie »Das unsichtbare Visier« tappten in diese Falle.
Zu jeder der vierzig Produktionen gibt es eine fachkundige Einführung.